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Vorsicht bei Velos auf dem Fussgängerstreifen

Ein jüngst veröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts zeigt, wie komplex die Beurteilung von Verkehrsunfällen sein kann. Ausgangspunkt war eine Kollision zwischen einem Fahrradfahrer und einem Autofahrer am 24. Oktober 2019.

Im konkreten Fall fuhr der Velofahrer von einem kleinen Weg auf eine Strasse, wobei er entgegen der vorgesehenen Fahrtrichtung unterwegs war. Plötzlich überquerte er einen Fussgängerstreifen, ohne anzuhalten oder die Vorfahrt herannahender Fahrzeuge zu beachten. Der Autofahrer erfasste ihn, was zu Verletzungen des Fahrradfahrers führte.

In der ersten Instanz wurde der Autofahrer freigesprochen, da das Gericht keine ausreichende Verletzung der Sorgfaltspflichten feststellen konnte. Das Berufungsgericht kam jedoch zu einem abweichenden Ergebnis: Es sprach den Autofahrer der fahrlässigen Körperverletzung schuldig und verhängte eine Geldstrafe. Das Bundesgericht bestätigte dieses Urteil abschliessend.

Entscheidend in diesem Fall war die Frage der Sorgfaltspflicht. Autofahrer sind verpflichtet, ihre Geschwindigkeit den örtlichen Gegebenheiten anzupassen und vor Fussgängerstreifen besondere Aufmerksamkeit walten zu lassen und die Geschwindigkeit zu reduzieren – auch wenn Fussgänger den Überweg nicht plötzlich und unerwartet betreten dürfen.  Nur wenn sich niemand in der Nähe des Fussgängerstreifens befindet, wenn der Autofahrer also davon ausgehen kann, dass kein Fussgänger unerwartet auftauchen wird, oder wenn ihm deutlich gemacht wird, dass er Vorrang hat, muss er seine Geschwindigkeit nicht verringern. Selbst wenn dem Velofahrer ein Selbstverschulden zugerechnet wird, hätte der Autofahrer das Verhalten voraussehen und seine Fahrweise entsprechend anpassen müssen. Seine unzureichende Aufmerksamkeit stellte einen klaren Verstoss gegen die Sorgfaltspflichten und die Verkehrsregeln dar, weshalb er wegen fahrlässiger Körperverletzung zu verurteilen sei.

Dieses Urteil zeigt eindrucksvoll die erhöhten Anforderungen an Fahrzeuglenker an Aufmerksamkeit. Eine Verletzung der Verkehrsregeln der übrigen Verkehrsteilnehmer gibt nämlich kein Freipass dafür, dass man sich selbst nicht daranhalten muss. Insbesondere bei Fussgängerstreifen ist eine erhöhte Aufmerksamkeit erforderlich.

BGer 6B_654/2023, Urteil vom 5. Januar 2024