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Patientenrechte kritisch betrachtet

Was hat die Patientenrechtsbewegung in der Schweiz erreicht? Wo liegen ihre Grenzen? Und: Welche Rolle können Juristinnen und Juristen in Zukunft im Gesundheitswesen wahrnehmen? Als "Patientenrechtler der ersten Stunde" reflektiert der Autor die Entwicklung in den vergangenen zwanzig Jahren und zeigt Chancen für die Zukunft auf.

Das "Forum für Gemeinschaftsaktionen" des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (GDI) hatte 1978 im "Centre Le Corbusier" im Zürcher Seefeld-Quartier für vier Wochen eine "Klagemauer" für Patienten einrichten lassen. Das war die Initialzündung zur Schweizer Patientenrechts-Bewegung. Der "Tages-Anzeiger" berichtete fast täglich über Fallbeispiele, denn für die Zeitung handelte es sich nach eigenen Angaben um einen "Probelauf". Sie wollte noch im gleichen Jahr "eine eigene Informations- und Beratungsstelle" für ihre Leserinnen und Leser eröffnen.

Wie zuvor bei Roger Schawinskis "TAT gibt Rat" (1977-1978) wurde das Beratungs-Team von "Tagi-Persönlich" (1978-1992) von Anfragen geradezu überschwemmt: Schwerpunkte bildeten Probleme aus dem Arbeits- und Mietrecht, unüberlegte Vertragsabschlüsse von Konsumenten, Bauschadenprobleme, Reiserechtsfragen und — überraschend zahlreich — die Sorgen von Patienten. Rechtsprobleme vorwiegend, soziale und psychologische Aspekte nur am Rande. Als Folge der Zeitungsberichte entstanden damals die ersten Ratgeber.

Patientenratgeber in der Schweiz
Im "Regina"-Verlag des "Tages-Anzeigers" erschien 1979 von Bruno Glaus "Deine Rechte als Patient", 1980 das Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft zum Thema "Patient und Gesundheitswesen", 1983 von Atilay Ileri "Arzt und Patient im Konflikt"; 1984 erschien "Patient Patientenrecht" im Verlag "Volk + Recht"; 1985 im Unions-Verlag "Patient — was tun?" von Glaus/Pfändler, Jahre später dann der erste "Beobachter-Ratgeber" (1993) und Peter Schneiders "Recht im Pflegealltag" (1994).

Eine kritische Rückschau
Was hat die Patientenrechts-Bewegung in der Schweiz bewegt? Ist sie – im Rückblick kritisch betrachtet – mehr gewesen als bloss ein temporärer Ableger des amerikanischen Konsumerismus, importiert von Marketingstrategen aus den Zeitungsverlagen? Hat diese "Bewegung" die Beziehungen der Patientinnen und Patienten zu ihren Ärztinnen und Ärzten real und substanziell verändert?

Sand in die Augen gestreut
Einige der damals pauschal als "68er-Patientenrechtler" verunglimpften Anwälte haben schon zu jener Zeit nicht unkritisch auf die verhängnisvolle "Rechtsfixiertheit" der Bürgerinnen und Bürger hingewiesen und nur mit Vorbehalten für eine Kodifizierung von Patientenrechten plädiert: "Die äusseren Bedingungen, die unvertrauten Praxis- und Spitalräumlichkeiten, eine gigantische Medizintechnologie, die Sprachbarrieren und die personellen Engpässe — all diese Probleme werden durch keine noch so gute Kodifikation von Patientenrechten behoben". Mit diesem Hinweis auf die realen Machtgefälle habe ich in meinen Publikationen bereits 1980 davor gewarnt, den Bürgerinnen und Bürgern mit neuen Gesetzen Sand in die Augen zu streuen. Die Generierung neuer Rechte ist immer Ausdruck und Folge von Krisen, von sozialem Ungleichgewicht, unkontrollierter Entwicklung, von Missbrauch. Gesetzliche Normierung gedeiht dort besonders gut, wo Strukturen, Apparate und Techniken übermächtig werden, wo die Veränderungen dramatische Ausmasse angenommen haben. Gesetze sind Reaktionen auf, selten Lösungsvorschläge zu solchen Veränderungen.
Auch die beste Kodifizierung kann nicht verhindern, dass es kaum zu regelnde und nur im Einzelfall zu entscheidende Grenzbereiche gibt. Die Gefahr einer Verrechtlichung besteht dort, wo Politiker, Interessenvertreter und Juristen auch in diese Grenzbereiche vorstossen, nicht akzeptierend, dass das Recht Leitplanken und Konfliktregelungsmuster festlegen soll, nicht aber die Wertentscheidung in jedem Einzelfall. Der Einzelne stösst hier an die Grenzen seiner eigenen Kapazität und Möglichkeiten und unterliegt der Versuchung, diese Entscheidungen den Juristen und dem Recht zu delegieren.

Ausgangspunkt ist ein Paradox
Im Zeitalter der Emanzipation ist dies ein Paradox. Wir leben in einer offenen Gesellschaft, befreit von den überkommenen religiösen, sozialen und gesellschaftlichen Korsetts, befreit von den alten Autoritäten, von den Patrons, den Göttern in Weiss und den Pfarrherren. Der Traum vom eigenverantwortlichen und selbst bestimmenden Individuum ist allgegenwärtig. Gleichzeitig ist diese neue Freiheit eine permanente Überforderung. Pascal Bruckner brachte dieses Spannungsfeld im Buch "Ich leide, also bin ich" treffend auf den Punkt: Er spricht von der Last und der Knechtschaft der Freiheit. Wie wahr! Komplexität und Vielfalt überrollen uns, Spezialwissen eilt uns davon. Wir sind überfordert: beim EDV-Spezialisten, beim Garagisten, beim Arzt.

Die angeblich befreiten und frei-entscheidenden Individuen suchen immer noch und immer wieder — das ist das Paradoxe! — Zuflucht zu neuen Autoritäten, vor allem zum Recht. Die Menschen sind rechtsfixierter geworden denn je zuvor. Das Recht ist die Autorität der Neuzeit, die Juristen repräsentieren diese Ersatzautorität, getragen und genährt von der Fiktion, das Recht enthalte den demokratisch ausgehandelten Ausgleich von Interessen, oder wie Rousseau geschrieben hat: Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.

Gesetze als Folge von Veränderungen
Diese Entwicklung ist keineswegs nur negativ zu beurteilen, sie verdient konstruktiv-kritisch reflektiert zu werden. Patientenrechte können zwar unsere Hilflosigkeit und Zurückgeworfenheit als Patienten nicht auffangen, sie haben jedoch andere, durchaus wünschenswerte, ja notwendige Funktionen.

1. Recht stiftet Identität. Es beantwortet Fragen wie: Wer bin ich? Auftraggeber oder Beauftragter, vom Staat bezahlter Beamter oder freischaffender Unternehmer? Eigenverantwortlicher Bürger oder fremdversorgtes Versicherungsobjekt?

2. Gesetze und Gerichte klären umstrittene Fragen. Dass Patienten einen Aufklärungs- und Informationsanspruch haben, weil Information Voraussetzung für Selbstbestimmung ist; dass es zulässig ist, Schutzimpfungen und obligatorische Schirmbilduntersuchungen gegen den Willen fundamentalistisch denkender Eltern durchzuführen, dass die zwangsweise ärztliche Begutachtung eines Tatverdächtigen nach einer Vergewaltigung zulässig ist, dass Organentnahmen zwar grundsätzlich zulässig sind, nicht aber gegen den geäusserten Willen eines Verstorbenen oder seiner Angehörigen vorgenommen werden dürfen, klärten in den letzten zwanzig Jahren vorerst Branchen-Richtlinien (z.B. jene der Schweiz. Akademie der Medizinischen Wissenschaften), später Verordnungen, Gesetze und schliesslich Gerichte.

3. Eine dritte Funktion des Rechts ist die Verhaltenssteuerung: Wenn das Bundesgericht im Zusammenhang mit Organentnahme-Bestimmungen entscheidet, dass zwar eine ausdrückliche Zustimmung des Patienten oder der Angehörigen nicht eingeholt werden müsse, Spitäler aber verpflichtet seien, die Patienten und Angehörigen über die Rechtssituation zu informieren, steht die Funktion der Verhaltenssteuerung im Vordergrund, nicht die Konfliktbereinigung oder Identitätsfindung.

4. Die Planungsfunktion: Neben diesen drei erstgenannten sozialen Funktionen gewinnt unter zunehmendem Kostendruck die Planungsfunktion des Rechts an Bedeutung.

Juristinnen und Juristen als willkommene Sparringspartner
Die Wertentscheidungsfindung im Gesundheitswesen ist ein spannungsgeladener und spannender Prozess. Dass die Juristinnen und Juristen dabei nicht nur Konfliktpartner, sondern konstruktive, wenn auch nicht immer bequeme sein könnten, müssten sich alle Beteiligten — Patienten, Gesundheitsexperten und Juristen — vermehrt bewusst sein.

Es setzt sich im modernen Verständnis von Juristerei mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass es nicht nur — oder nicht in erster Linie — darum geht, wer Recht hat und wer Unrecht, sondern um den vermittelnden Interessenausgleich, welcher unter Umständen Sühne beidseits einschliesst. Zu denken ist an interdisziplinär zusammengesetzte Ombudsstellen in Spitälern, an erweiterte Verbandsräte anstelle der bisherigen One-Man-Shows von Ombudsleuten, an freiwillig verabredete Schiedsverfahren, an regelmässige Workshops zu Qualitätssicherung oder schlicht an einfache Medidiationsverfahren.

Mediation und Moderation muss bei Ärzten und Juristen gleichermassen zum Thema werden. Dieser interdisziplinäre Prozess fördert den Interessen- und Kräfteausgleich. Ärzte allein wären überfordert. Juristen allein ebenfalls.

Die Qualität unseres Handelns entsteht aus der Komplexität des Zusammenwirkens unterschiedlicher Kräfte. Der Einbezug aller Beteiligten, auch der Patientinnen und Patienten, wird früher oder später dazu führen, dass die Beteiligten vermehrt von der eigenen Verantwortung sprechen. Dazu hat die Patientenrechts-Bewegung bisher noch (zu) wenig beigetragen.

 

von Dr. iur. Bruno Glaus