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WAS IST KUNST? WAS DARF KUNST? WEM GEHÖRT KUNST?

Ausgangslage

Fallbeispiel 1:
Studenten der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich (HGKZ) erarbeiteten als Semesterarbeit
ein mehrfach ausgezeichnetes Projekt „clone-it“, welches in das Projekt
www.tracenoizer.org mündete: Die Selbstdarstellung Einzelner in der Web-Welt wird damit zertrümmert,
verstümmelt, verulkt, parodiert.


Es geht um das Thema „Electronic Surveillance“ oder im weitesten Sinn um „pervasive computing“.
Das Ziel der Kunststudenten war es, mit einem Programm „richtige“ Daten mit „falschen“
zu mischen und so neue Homepages zu generieren. Mit dem Effekt, dass der Nutzer nicht mehr
weiss, was richtig und was falsch ist. Statt vom Staat oder der Internet-community zu fordern,
die gesammelten Daten müssten von Zeit zu Zeit gelöscht werden, wird das Problem mit Text-
Recycling ad absurdum geführt. Es ging den Kunststudenten nicht um klassische Aufklärung
über die Überwachungsmöglichkeiten im Internetzeitalter oder um Aufklärung über das Ende
des Urheber- und Persönlichkeitsrechts, sondern um eine „künstlerische Provokation in einer
gesellschaftlichen Grauzone“, die bewusst Reaktionen auslösen soll.

Unter www.clone-it.org konnten in der Folge alle clones von allen hgkz-Dozenten abgerufen
werden. Die Proteste waren heftig, einzelne Dozenten drohten mit gerichtlichen Klagen, nachdem
Websites ohne ihr Wissen mit Schrot-Information abrufbar war. Die Rechtfertigung, es gehe
um künstlerische Provokation, sei, „wie man weiss, das schon ältere und leicht angegraute
Argumentationsschema der linken Protestbewegung, und der Aktionskunst der 60-er Jahre“,
schrieb ein Dozent, mit dem Unterschied, dass die damaligen Protestierenden „nicht wahllos
unwissende Alltagspersonen aussuchten, sondern Institutionen, gesellschaftliche Gruppen als
Ganzes oder wichtige Personen des öffentlichen Lebens angegriffen haben, Ziele also, die in
den Augen der Provokateure mit einer gewissen ungerechtfertigten Macht ausgestattet waren,
der es etwas entgegen zu setzen galt“. Und wörtlich fährt der Dozent weiter: „Es wäre meines
Erachtens im Sinne dieser Provokation konsequenter gewesen, andere Gruppen als die Dozenten
des HGKZ als Versuchskaninchen zu nehmen, zum Beispiel die Bezirksrichter der Stadt
Zürich, die Mitglieder des Nationalrates, die relevanten Internetfirmen der Schweiz, die Datenschützer
oder die Crème de la Crème der Schweizer Kulturszene“.

Unter den geclonten Homepages tauchten auch Texte über Selbstmord auf, u.a. bei einer Dozentin,
deren Freund sich erst gerade vor wenigen Tagen umgebracht hatte.

Fallbeispiel 2:
Das Künstler-Gespann Marcus Gossolt und Johannes Hedinger – in der Ostschweiz vorallem
bekannt mit dem Projekt „Mocmoc“, zu dem auch ein ganzes Buch erschienen ist, lanciert für
das Zürcher Dada-Haus „Cabaret Voltaire“ eine Campagne www.gugusdada.ch . Gesucht werden
Eltern, die bereit sind, ihr Kind „Dada“ zu taufen und dies als „Testimonials“ in einer Kampagne
auch zu bezeugen.
Com&Com betreiben mit Akribie die Auflösung eindeutiger Grenzen zwischen Kunst und Kommerz,
vorallem zwischen elitärer Hochkunst und populärer Alltagskunst. Sie setzen die Hinterfragung
des traditionellen Kunstbegriffs ganz auf der Linie eines Duchamp, Warhol oder Koons
fort. Und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Werbung und der Kommunikation 2
betreiben sie wie einst die genannten Sterne den Starkult um sich selbst. Die Kunst besteht
letztlich darin, Mechanismen, die in der Medien- und Markenartikel-Welt längst gang und gäbe
sind, kunstvoll zu übersteigern und zu zelebrieren durch Wiederverwertung etablierter Marketingstrategien
im Kunstkontext.
Wer so arbeitet wie die LAN-Gruppe an der HGKZ oder wie com&com, ist mit seinen Werken
nur mühsam in den traditionellen, im Urheberrechts-Gesetz formulierten Kunstbegriff einzuordnen:
Nach Art.2 URG sind bekanntlich urheberrechtlich geschützte Werke nur jene Werke, die
geistige Schöpfungen der Literatur und der Kunst sind und individuellen Charakter haben. Ich
verweise diesbezüglich auf die Kontroverse, die rund um die beiden Bundesgerichts-Entscheid
zum Bob-Marley-Bild und zur Abbildung von Wachmann Meili entstanden ist (BGE 130 III 168
und 130 III 714, Vergl. dazu auch Ruth Arnet, Die Fotografie – Sorgenkind des Urheberrechts?,
in AJP 1/2005, S.67ff.). Es hilft hier letztlich nur mehr ein Kunstbegriff, der selbstreferenziell ist:
Nicht nur das Werk als solches, sondern auch die Art der Präsentation und die Rezeption in der
Kunstwelt selbst und insbesondere die Konzeption des Gesamt-Oeuvres sind wichtige Kriterien.
Soviel zur Frage: Was ist Kunst?
Das Schwergewicht will ich aber bei der zweiten Frage setzen: Was darf Kunst?
Dürfen sich Eltern, um beim Dada-Beispiel zu bleiben, vertraglich derart binden? Dürfen Sie ihr
Kind derart „vermarkten“? Ist dies mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar?

Konflikt
Auch im Kunstbereich kollidieren Interessen, Interesse an Selbstdarstellung, Interesse an
Schutz von geistigem Eigentum, Interesse an Schutz von Privatsphäre Interesse an Kunstdebatte
und Provokation durch Kunst, Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen, Überlebensinteresse,
und das öffentliche Interesse am Schutz der Menschenwürde – dies Aufzählung
der kollidierenden Interessen ist keineswegs abschliessend.

Folgende vier Schrankenbereiche gelten grundsätzlich auch im Kunstbereich:
Die straf- und verwaltungsrechtlichen Inhaltsschranken in Strafgesetzbuch und Spezialgesetzgebung
(z.B. Alkoholgesetz, Tabakgesetz, Heilmittelgesetz usw.)

Schutz der ethnischen Würde (Rassismus-Gesetzgebung in Art.261bis StGB)

Schutz der Glaubens- und Kultusfreiheit (Art. 261 StGB ohne „Kulturprivileg“), bestraft
wird, wer in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, inbesondere
den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet oder Gegenstände religiöser Verehrung
verunehrt“.

Schutz der Menschenwürde (Art.135 StGB) und der sexuellen Integrität (Art.197 StGB)
beide mit einem „Kultur- und Wissenschaftsprivileg“, vergl. Bilder von menschlichen
Ausscheidungen „Gegenstände oder Vorführungen im Sinne der Ziffern 1 –3 sind nicht
pornographisch, wenn sie einen schutzwürdigen kulturellen oder wissenschaftlichen
Wert haben“, StGB nur beschränkt gegen Geschlechterdiskriminierung)
Schutz vor unbefugtem Eindringen in ein Datenverarbeitungssystem / Datenbeschädigung
(Art. 143bis ff StGB)

 

Der straf- und zivilrechtliche Schutz von materiellem und immateriellem Eigentum:
Schutz des geistigen Eigentums, Ausschliesslichkeitsanspruch 3

 

Der straf- und zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz (dargestellter Menschen)
Schutz der Ehre (Art. 173 ff. StGB
Schutz des Geheim- und Privatbereichs (

 

Der Lauterkeitsschutz bei produkte- oder unternehmensorientierter Kritik und beim Vertrieb
und bei der Vermarktung von Werken

 

Regelung der Interessenkollision
Interessenkollisionen sind letztlich Grundrechtskollisionen (zwischen Recht auf Menschenwürde,
auf persönliche Freiheit, Schutz der Privatsphäre, auf aktive und passive Informationsfreiheit,
Medienfreiheit, Kunstfreiheit, Eigentumsgarantie, Wirtschaftsfreiheit und Recht auf politische
Betätigung). Es gilt im Privatrecht die Drittwirkung der Grundrechte (Art. 35 BV) – auch im
Bereich des Persönlichkeitsschutzes (vergl. dazu Tarkan Göksu, Drittwirkung der Grundrechte
im Bereich des Persönlichkeitsschutzes, SJZ 98, 2002, S. 89ff.). Die Frage der Persönlichkeitsverletzung
und der Widerrechtlichkeit der Persönlichkeitsverletzung ist auf dem Wege der verfassungskonformen
Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zu beantworten. Im Konfliktfall hat
der Richter nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip einen Interessensausgleich zu suchen und
festzulegen.

Persönlichkeitsschutz und Grundrechte
Nicht alle Freiheitsrechte sind auch Aspekte der Persönlichkeit. Vom Persönlichkeitsschutz
werden u.a. erfasst das Recht auf Menschenwürde (Art. 7 BV), das Grundrecht auf Leben und
persönliche Freiheit (Art. 10 BV), der Schutz der Privatsphäre und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27
BV). Das Selbstdarstellungsrecht ist Teil der verfassungsmässig garantierten Persönlichen
Freiheit, konkretisiert in Art. 28 ff. ZGB und im Datenschutzgesetz (Beilage), welches ein Gesetz
ist, dass jegliche Bearbeitung von personenbezogenen Informationen einschliesst (also
nicht nur Datenbanken-Gesetz ist).

Die Frage der Widerrechtlichkeit
Nicht jede Werteverletzung ist widerrechtlich. Bereits erwähnt worden ist das „Kultur- und Wissenschaftsprivileg“ in Art. 135 und Art.197 StGB.
Und nicht jede Persönlichkeitsverletzung ist widerrechtlich und mithin unzulässig. Vielmehr kann
ein rechtfertigendes Moment die Widerrechtlichkeit der Verletzung aufheben, ist doch eine Persönlichkeitsverletzung nicht widerrechtlich, wenn sie wegen Einwilligung, Gesetzesvorschrift
oder Verfolgung höherwertiger Interessen gerechtfertigt ist (Art. 28 Abs. 2 ZGB, SJZ 98, 2002,
S. 99). Der Verletzer beruft sich in diesem Fall auf höherwertige Interessen. Der Richter muss in
dieser Kollisionssituation unter Berücksichtigung aller Besonderheiten des Einzelfalles einen
Ausgleich zwischen den sich widerstreitenden Grundrechten finden.

Zulässigkeit der Wiedergabe von widerrechtlichen Äusserungen durch die Presse
„Die Verbreitung einer widerrechtlichen Presseäusserung kann unter bestimmten Voraussetzungen
rechtmässig sein. Sie ist es zumindest dann, wenn die fremde Äusserung vollständig
und wahrheitsgetreu dargestellt wird, als solche gekennzeichnet ist und nicht als Originalmeldung
des Verbreiters, gewissermassen die eigene Sicht aufzeigend, erscheint (erkennbare Distanzierung)
und die Kenntnis davon für den Leser von Wert (Informationsinteresse) ist“ (medialex
1996, S. 41ff. und Christoph Born, Wann haften Medienschaffende für die Wiedergabe widerrechtlicher
Äusserungen Dritter, in medialex 2001, S. 15).

Analoge Anwendung der Grundsätze für Kunstschaffende
Ein Eingriff in Persönlichkeitsrechte durch Kunstschaffende kann unter bestimmten Voraussetzungen
rechtmässig und somit nicht widerrechtlich sein. Grundvoraussetzung ist ein überwiegendes
Informations- oder Kunst- oder Wissenschaftsinteresse. Der Eingriff sollte so weit als
möglich erkennbar sein oder jedenfalls im Konzept als begrenzter „Laborversuch“ deklariert
werden. Zweck kann ja beispielsweise eine Untersuchung der durch ein Projekt ausgelösten
Proteste sein (vergleichbar den Blind- und Doppelblindversuchen bei Medikamenten). Meist
wird ein – gewöhnlicherweise widerrechtlicher – Eingriff, nur für eine beschränkte Zeit durch ein
überwiegendes Kunstinteresse gerechtfertigt werden können (z.B. Aktionskunst, Einsperren
eines Tieres, Belästigung auf der Strasse durch Theatermacher etc.). Die zum Zweck eingesetzten
Mittel müssen notwendig, verhältnismässig und zumutbar sein (vergl. dazu die Datenschutzgrundsätze).
Aufwertung der Kunstfreiheit durch neue BV
Die ausdrückliche Erwähnung der Kunstfreiheit in der Bundesverfassung wird dazu führen, dass
diese Freiheit öfters als früher zur Rechtfertigung von Urheber- oder Persönlichkeitsverletzungen
herangezogen wird (Jacques de Werra, Liberté de l’art et droit d’auteur, medialex 2001, S.
143ff.). Nicht nur werden die Privilegien im Urheberrecht extensiver ausgelegt werden – so beispielsweise
das Zitatrecht, das Parodieprivileg, das Katalogprivileg – es wird das Interesse an
eine Kunstdebatte bzw. künstlerischen Aussage ganz generell in die Waagschale zu werfen
sein. Dieser Interessenausgleich war bis anhin jedoch nur am Rande Gegenstand von juristischen
und kulturpolitischen Debatten.

Kulturverständnis beeinflusst rechtliche Beurteilung
Die Reaktionen auf clone-it haben gezeigt: Die rechtliche Beurteilung hängt auch vom Kunstund
Kulturverständnis der Betroffenen und Beurteilenden ab. Das Projekt wurde als Ausfluss
eines Altachtundsechsziger Kulturverständnisses qualifiziert. Wer die Auffassung teilt, Kunst
und Politik hätten etwas miteinander zu tun, kommt zu andern Schlüssen. In der Kunstgeschichte
finden sich zahlreiche Belege, dass der Aufstand gegen die herrschende Macht, die Revolte,
das Negative ein Akt des Kreativen ist, vielleicht sogar eine Grundlage desselben. Thomas
Mann hat wie Egon Erwin Kisch geschrieben, Kunst sei „Opposition“, Carl Andre hat Kunst als
„politische Waffe“ bezeichnet, ein anderer Kunst „als Modell des Trotzdem-Weitermachens“
(Peter Weiss in Aesthetik des Widerstands), wer nicht den Mut hat, Formen zu zertrümmern,
um das Leben zu befreien, ist nicht kultiviert (Antonin Artaud, zit. in: 1460 Antworten auf die
Frage: Was ist Kunst?, Dumont Buchverlag, Köln 2000, S. 131 ff.).

Fallbeispiele: www.tracenoizer.org/html/memo1.doc / www.gugusdada.ch / www.mocmoc.ch

 

von Dr. iur. Bruno Glaus


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