Blog

Der Schutz der Angehörigen und die Medien

Wenn das Schweizer Fernsehen Bilder von verhafteten Basler Fussballfans ausstrahlt, wenn eine Illustrierte Porträts von vermissten Tsunami-Opfern publiziert, wenn identifizierbar über pädophile Lehrer berichtet wird oder das Bild eines Unfallwagens zu Werbezwecken hinhalten muss - immer sind Angehörige der Direktbetroffenen mitbetroffen. Auch die namentliche Berichterstattung über die Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft belastet Angehörige oftmals schwer. Selbst die Bilder eines einsam auf dem Meer vor Halifax dahintreibenden Pullovers können von nächsten Angehörigen äusserst schmerzhaft empfunden werden.

Obwohl der Presserat bei der identifizierbaren Berichterstattung einen strengen Masstab ansetzt, werden die medienethischen Grundsätze in der Praxis wenig beachtet. Es werden bei Entlassungen die Betroffenen identifiziert (Stellungnahme 5/2004), es werden selbst mild bestrafte Downloader und Speicherer von Kinderporno-Seiten medial exekutiert (Stellungnahme 2/2003), nichtbeachtend, dass im Hintergrund der diffamierten Menschen Partner und Partnerinnen, Kinder und Eltern lieben und leiden. Das Säbelrasseln und Schwerterschwingen in den Medien trifft auch sie (oder vor allem sie).

Der Persönlichkeitsschutz der Angehörigen
Die sonst nicht am angloamerikanischen case law orientierte kontinentale Rechtsprechung musste sich im Bereich des Persönlichkeitsschutzes in einem dynamischen Prozess engagieren. Einzelfallbezogen haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und höchste nationale Gerichte die eher allgemeinen und abstrakten Normen des Persönlichkeitsschutzes konkretisiert. So zogen sie die Grenzlinie zwischen erlaubten sozialen Interventionen und unerlaubten Verletzungen der physischen und psychischen Integrität von Menschen.

Folglich könnten die Angehörigen längst auch in der Schweiz Rechtsansprüche geltend machen. Das Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit und der privatrechtliche Persönlichkeitschutz schliessen den Schutz der emotionalen Bindungen der Angehörigen zu ihren Nächststehenden, insbesondere zu den Verstorbenen ein. Schon im Jahre 1944, im Fall der Witwe Hodler (Entscheid 70 (1944) II 130 ff.) hatte das Bundesgericht entschieden, die Witwe des Malers werde durch das Ausstellen eines Bildes, das ihren Mann auf dem Totenbett zeige, in ihren persönlichen Verhältnissen verletzt. Art. 28 ZGB schützt auch den seelisch-emotionalen Bereich des Lebens, die affektive Persönlichkeit.

Dementsprechend nennt das Schweizer Bundesgericht als geschützte Rechtsgüter „die seelisch-geistige Beziehung“ und das „Pietätsgefühl“. Unser oberstes Gericht billigt den Angehörigen auch im Zusammenhang mit der Gesetzgebung über Archivierung ein eigenständiges Persönlichkeitsrecht zu: Angehörige können hinsichtlich Publikationen über nahestehende Verstorbene ihre eigenen Persönlichkeitsrechte nach Art. 28 ZGB geltend machen.

Betroffenheit ist noch nicht Verletzung
Auch in der rechtswissenschaftlichen Lehre ist unbestritten, dass Art. 28 ZGB den seelisch-emotionalen Bereich des Lebens einer Person, die sogenannte affektive Persönlichkeit schützt. Darunter fallen auch Störungen in den familienrechtlichen Beziehungen (Teilnahme an Ehebruch, falsche Behauptungen über Vaterschaft, Weigerung Besuchsrecht zu gewähren usw.). Zurecht weisen Kommentatoren allerdings darauf hin, dass keine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung vorliegt, wenn das seelische Wohlbefinden als kausale Folge von sozial akzeptablen Handlungen von Medienschaffenden beeinträchtigt wird. Betroffenheit ist noch nicht mit Verletzung gleichzusetzen; der Eingriff bedarf einer gewissen Intensität, die über das im sozialen Verkehr Unvermeidliche hinausgeht, um als widerrechtlich zu gelten. Beispiel: Nicht jeder nächtliche Protestanruf über Telefon, nicht jede kritische Würdigung eines Angehörigen ist bereits eine Persönlichkeitsverletzung.

Die Praxis des Presserates

Grundsätze und Richtlinien
Zahlreiche Stellungnahmen des Presserates befassten sich unter medienethischen Gesichtspunkten mit dem Schutz der Angehörigen (siehe dazu www.presserat.ch). Ihre seelischen Interessen sind einerseits Teil der Privatsphäre. (Die Pflicht Nr. 7 des Journalistenkodexes umreisst den Schutz der Privatsphäre; er erwähnt die Angehörigen nicht, was aber die zugehörigen Richtlinien 7.2. – Personen in Not - , 7.5. – Unschuldsvermutung – und 7.6. – Namensnennung - nachholen).

Wo der Journalistenkodex hingegen die Menschenwürde schützt (Journalistenpflicht Nr. 8), verweist er explizit auf die Gefühle der Angehörigen. Er verstärkt diesen Hinweis in den beigegebenen Richtlinien 8.3 (Opferschutz) und 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen).

 

Aus der Vielzahl presserätlicher Stellungnahmen lassen sich folgende Grundzüge herauskristallisieren: Der Presserat nennt den Schutz der Interessen der Angehörigen gleichgewichtig neben dem Schutz der Interessen der Direktbetroffenen beim Verbot der identifizierenden Berichterstattung (R 7.6): „Der Schutz der Privatsphäre der Betroffenen und ihrer Angehörigen erfordert grösste Zurückhaltung bezüglich einer identifizierenden Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren mit Einschluss des Urteils“, heisst es im Vademekum des Schweizer Presserats. Umschreibung darf keine Identifizierung des Verdächtigten über das engere „familiäre, soziale oder berufliche Umfeld“ hinaus erlauben (im nahen Umfeld kennt man die Person ohnehin). Auf eine Namensnennung ist allenfalls selbst dann zu verzichten, wenn eine Behörde den Namen publik gemacht hat; denn die Verbreitung und damit der Hauptschaden resultiert aus der Medienpublizität.

Angehörigen-Interesse sind auch und vor allem bei Kapitalverbrechen zu berücksichtigten. Denn „aufgrund des erhöhten Interesses der Öffentlichkeit an Berichten über schwere Verbrechen wird hier die Privatsphäre von Tatverdächtigen und Angehörigen regelmässig auch intensiver beeinträchtigt“. Angehörigen-Interessen sind auch bei der identifizierenden Berichterstattung über Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren sowie bei Berichten über massive zivilrechtliche Vorwürfe zu berücksichtigen. Indes: Der Presserat relativierte mit zwei Stellungnahmen (6/1999 und 46/2002) den Schutz. Er nimmt - meines Erachtens zu Unrecht - bereits bei polizeilichen Ermittlungen d.h. vor der formellen Eröffnung eines Untersuchungsverfahrens, generell einen genügend begründeten Verdacht und ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung an.

Unglücksfälle und Verbrecher
Bei der Berichterstattung über Unglückfälle und Verbrechen, insbesondere auch bei der nachfolgenden Gerichtsberichterstattung ist bei Wortwahl und Stil „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der Respektierung grundlegender Prinzipien wie Unschuldsvermutung, Persönlichkeitsschutz und geordnetem Gang der Rechtspflege“ anzustreben (Stellungnahmen 45/2001 und 48/2001). Aus den einschlägigen presserätlichen Stellungnahmen lässt sich zumindest in diesem Umfeld eine Pflicht zur Ausgewogenheit (Verhältnismässigkeit) auch in Fragen des Stils ableiten.

Hohe Bedeutung misst der Presserat schliesslich dem Gefühl-Schutz der Angehörigen im Zusammenhang mit Unglücksfällen, Kriegen und Katastrophen zu (Grundsatz 8, Richtlinie 8.3 - 8.5). Die Berichterstattung findet ihre Grenzen „im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Dabei ist, vorab im engeren geografischen Raum, stets auch an Familienangehörige und Freunde der betroffenen Person zu denken“ (Stellungnahme 12/1999 und 2/1998 zum „Umgang mit Schock- und People-Bildern“ sowie – ganz neu – 15/2005 über den abgetrennten Kopf einer Palästinenserin in NZZ/“Folio“). Schon die Veröffentlichung des Bildes eines tot oder sterbend dasitzenden Kantonsrats nach dem Amoklauf in Zug hielt der Presserat zwar - im Unterschied zu Szenen mit Verletzten – für „grundsätzlich unzulässig“ ; er verzichtete aber auf eine Rüge, weil die Redaktion den Todeszustand offensichtlich nicht erkannt hatte (Stellungnahme 5/2002).

Sehr weit geht der Presserat beim Schutz von Minderjährigen. Die Berufsethik gebiete es zuweilen, „Menschen auch vor sich selbst zu schützen“. Selbst Erwachsene könnten nicht immer abschätzen, auf was sie sich einliessen, wenn sie ihre eigene Privatsphäre und die ihrer Angehörigen den Medien preisgeben. Bei Berichten über ganze Gruppen von Demenzkranken ist die Zustimmung der Angehörigen einzuholen (Stellungnahme 53/2001 i.S. Rundschau).

Auch wenn es darum geht, die Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens und von Prominenten zu schützen, spielen die Interessen der Angehörigen eine Rolle. Bezeichnenderweise sprach der Presserat in der Stellungnahme Borer davon, die Privatsphäre des „Ehepaars“ sei verletzt worden (Stellungnahme 36/2002 i.S.Meier-Schatz vom 15. August 2001 und Stellungnahme 62/2002 i.S.Borer vom 5. Dezember 2002).

Die wirklich Schutzbedürftigen
Selbstverständlich müssen die Medien auch über Untaten berichten. Aber müssen sie dabei gleich auch die Namen nennen und die Bilder veröffentlichen? Liegt es im öffentlichen Interesse, dass ich den Namen des unglückseligen Piloten kenne, der in den Pirelli-Turm raste? Die Namen und Bilder der jungen Leute, die eben gerade tödlich verunglückten, den Namen das Porträt des eben entlassenen Bankinspektors? Die Antwort kann häufig nur lauten: Nein! Mit der Identifizierung wird unnötig Betroffenheit multipliziert.

Dass dennoch häufiger als notwendig personifiziert berichtet wird, hat seinen Grund: Der Name, nicht das Medium, ist die Botschaft. Personality-Show total. Auch in der Krise. Das Leid, der Ärger, die Empörung will personell greifbar sein. Namenlose Meldungen berühren uns nicht mehr.

Mitbetroffene oder hauptbetroffene Angehörige setzen sich nur selten zur Wehr. Prominente ausgenommen. Am nachhaltigsten scheint die Sache Borer zu wirken. Nur sollten wir vor lauter Borer-Affären die wirklich Schutzbedürftigen nicht ganz aus den Augen verlieren, diejenigen, die gar nie die Kraft und die Mittel haben, das ihnen über Medien zugefügte Leid einzuklagen: Die Masse der vom Medienscheinwerfer erfassten völlig privaten Angehörigen.

 

von Dr. iur. Bruno Glaus


Diese Website benutzt Cookies. Wenn Sie die Website weiter nutzen, gehen wir von Ihrem Einverständnis aus. Datenschutzerkärung