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Auslegung von Verträgen

Nicht der Titel eines Vertrages, sondern der übereinstimmende wirkliche Wille der Vertragsparteien ist massgebend (Art. 18 OR, Ott 2000, S.l). Ein Versprecher, ein Verschrieb oder eine falsche juristische Qualifikation ändert nichts am wirklichen Inhalt.

Auch im Kulturbereich sind Vereinbarungen selten vollständig oder unmissverständlich klar. Strittiges ist häufig nicht geregelt: Rücktritt vom Vertrag, vorzeitige Auflösung, Haftung, Umfang der übertragenenen Nutzungs- oder Verfügungsrechte etc. Es fehlen klare, übereinstimmende Willensäusserungen der Parteien zu Nebenpunkten - oder die Äusserungen sind unklar. Für diese Fälle legt das Gesetz Auslegungsregeln und dispositive Gesetzesnormen fest. Es gilt folgende Rangordnung.

1. Subjektiver Parteiwille
An erster Stelle ist auf den massgebenden subjektiven Parteiwillen abzustellen, es ist ist empirisch nach dem subjektiven Willen der Parteien zu forschen, erst an zweiter Stelle normativ nach dem Vertrauensgrundsatz (Ott 2000, S.5).

Beispiel "Le Corbusier — Prozess":
In einem Prozess wegen Verletzung von Urheberrechten war unklar, ob die Lizenznehmerin berechtigt war, in eigenem Namen gegen die Verletzerin zu klagen. Die Stiftung Le Corbusier hatte mit einer Möbelherstellerin einen Lizenzvertrag abgeschlossen. Die Möbelherstellerin klagte gegen die Nachahmerin. Diese wiederum machte geltend, die Möbelherstellerin sei gar nicht berechtigt, in eigenem Namen zu klagen. Es stellt sich dem Richter die Frage, ob die lizenznehmende Möbelherstellerin durch den Lizenzvertrag zu Prozessen im eigenen Namen ermächtigt worden sei. Weil die Aktenlage unklar war, war im Beweisverfahren zunächst zu prüfen, ob es der Wille der Le Corbusier-Stiftung und der Möbelherstellerin war, dass der Möbelherstellerin ein selbständiges Klagerecht eingeräumt würde. Im Beweisverfahren bestätigten Zeugen, dass ein gemeinsamer Parteiwille in diesem Sinn vorlag.

Beispiel "Provisionsanspruch des Agenten"
X. nannte sich Kulturvermittler. In dieser Eigenschaft führte er immer wieder Künstler und Käufer zusammen. Seinen Auftraggebern — mal Künstler, mal Sammler — bestätigte er jeweils den Auftrag mit den Honorarbedingungen "10 Prozent des Kaufpreises, welcher vom Käufer dem Künstler direkt zu überweisen ist". Ein Auftraggeber machte geltend, er habe die Provision erst zu zahlen, wenn der Kaufpreis für das Werk bezahlt worden sei. Der Anwalt aber musste dem Künstler bestätigen, dass nach Gesetz eine andere Grundregel gilt: Der Provisionsanspruch entsteht bereits mit Abschluss des Geschäfts und nicht erst mit der Bezahlung des Kaufpreises (Art. 418g Abs.3 OR). Gegenlautende Abmachungen sind zwar zulässig, müssen aber deutlich abgefasst sein. Andernfalls wird kein abweichender übereinstimmender Parteiwille angenommen (BGE 121 III 419).

Simulation zieht nicht
Nicht die unrichtige Bezeichnung und Ausdrucksweise oder gar die Simulation eines Rechtsgeschäfts sind entscheidend, sondern der tatsächliche Rechtswille der Parteien. Wer Kunstwerke verschenkt, sie aber dem Familienfrieden zuliebe als Kaufgeschäfte tarnt, macht Geschenke (welche allenfalls in die Pflichtteilsberechnung einbezogen werden). Der Dritte, der das geschenkte Bild in gutem Glauben, erworben hat, kann sich allerdings auf den Gutglaubensschutz berufen (Art. 18 Abs.2 OR). Wenn ein Galerist von einem Sammler ein Bild zurückverlangt, weil er sich über die Identität des Bildes geirrt habe, kann der Sammler dem Rückforderungsanspruch des Galeristen entgegenhalten, er habe das Bild bereits einem (gutgläubigen) Dritten weiterverkauft. Die Ernstlichkeit dieses Geschäfts braucht er nicht nachzuweisen, wie auch sonst derjenige, der sich auf rechtsgeschäftliche Erklärungen beruft, nicht auch noch deren Wirksamkeit darlegen und nachweisen muß [BGH - VIII ZR 135/87 - 08.06.88; DRsp-ROM Nr. 1992/2425].

 

2. Dispositives Gesetzesrecht
Wenn ein massgeblicher gemeinsamer, übereinstimmender Parteiwille nicht eruiert werden kann, ist auf dispositives Gesetzesrecht abzustellen. Allenfalls müssen dispositive Normen auch ausgelegt, d.h. interpretiert werden.

Beispiel "Konkubinats-Fall:
Zwei im Konkubinat lebende Freunde kauften zusammen einen ganzen künstlerischen Nachlass zu je hälftigem Eigentum, ohne dass die künftige Ausstellungskonzeption und die Bewirtschaftung der Sammlung geklärt worden war. Zwischen den beiden Freunden entstanden bald Meinungsverschiedenheiten über die Art der Ausstellungstätigkeit. Die Freunde hatten keine Vereinbarungen getroffen, was geschehen soll, wenn sie sich in wesentlichen Fragen nicht einigen sollten. In Anlehnung an BGE 110 II 292 führte der Richter anlässlich einer Referentenaudienz aus, in diesem Fall würden die Regeln über die einfache Gesellschaft gelten (Art. 530 ff. OR). Danach seien Beschlüsse mit Zustimmung aller Gesellschafter zu fassen. Wenn sich die Parteien nicht einigen könnten, so müsste die Gesellschaft allenfalls aufgelöst und liquidiert werden (Art. 545 OR).

 

3. Auslegung der unklaren Vereinbarungen
Hilft auch das dispositive Gesetzesrecht nicht weiter, muss die objektive Auslegung der unklaren vertraglichen Bestimmungen versucht werden. Es geht dabei um die Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte (wie Sprachgebrauch, Stellung im Vertragswerk, etc.) sowie der gesamten Umstände vor, während und nach Vertragsabschluss. Ziel der objektiven Vertragsauslegung ist es, eine sachlich angemessene Lösung zu finden (zur "Ergebniskontrolle" Ott 2000, S.95).

Beispiel "Reuegeld"
Ein Kaufvertrag eines Galeristen mit einem Sammler enthielt die Klausel, dass der Käufer im Falle einer Vertragsauflösung nach Begutachtung des Werks in den eigenen Räumlichkeiten, befristet auf 30 Tage, ein Reuegeld von 20 Prozent des Kaufpreises zu zahlen habe, ohne zu präzisieren, ob unter Vertragsauflösung nur die einvernehmliche Auflösung auf Begehren des Käufers oder auch die einseitige Auflösung durch den Käufer gegen den Willen des Galeristen gemeint war. In Anlehnung an einen ähnlichen Fall (BGE 110 II 146), einigten sich die Parteianwälte, dass die Ausdrucksweise "bei Vertragsauflösung durch den Käufer" auch die einseitige Auflösung und nicht nur die einvernehmliche auf Initiative des Käufers umfasste. Allerdings einigte man sich vergleichsweise auf ein Reuegeld von 10 Prozent der Kaufsumme.

Beispiel "Selbstersteigerer"
Bei einer Auktion von Kunstgegenständen wurde ein Kunstwerk dem Einlieferer zugeschlagen, der durch eine Vertreterin ein Scheinangebot gemacht hatte, ohne dass dies dem Versteigerer persönlich bekannt war oder sich die Vertreterin des Einlieferers zu erkennen gegeben hätte. Der Einlieferer stellte sich auf den Standpunkt, es liege eine Simulation vor, deshalb müsse er die Provision des Versteigerers nicht zahlen. Der Versteigerer aber war von einem echten Angebot ausgegangen. Dafür sprach auch der formelle Wortlaut des Vertrages, welcher den Provisionsanspruch schlicht an den Zuschlag knüpfte. Ein gegenlautender übereinstimmender Parteiwille konnte nicht nachgewiesen werden, dispositive Gesetzesnormen zur Frage gibt es nicht, weshalb auf objektive Vertragsauslegung zurückgegriffen werden musste. Der Einlieferer musste sich das Verhalten seiner Vertreterin anrechnen lassen. Der Versteigerer hatte Anspruch auf die gleichen Provisionszahlungen wie beim Zuschlag an einen Dritten (BGE 112 II 337ff.). Das Gericht hielt fest, es bestehe auch ein allgemeines Interesse daran, dass Steigerungswettbewerbe an Auktionen nicht durch Scheinangebote des Einlieferer verfälscht würden, weshalb es sich umso mehr rechtfertige, Einlieferer das Risiko eines Scheinangebote tragen zu lassen (BGE 112 II 346ff.).

Wenn in den Versteigerungsbedingungen sowohl eine Einliefererprovision als auch ein Aufgeld für den Ersteigerer geschuldet ist, schuldet der Selbstersteigerer beides, Einliefererprovision und Aufgeld [BGH - I ZR 181/96 - 01.07.99; DRsp-ROM Nr. 1999/9298].

 

4. Vertragsergänzung durch den Richter
Schliesslich ist, wenn die objektive Vertragsauslegung zu keinem (befriedigenden) Ergebnis führt, der Vertrag vom Richter zu ergänzen.

Beispiel "Auftragswerk"
Ein Kunstsammler gab bei einem Künstler ein klar umschriebenes Konzeptkunstwerk in der Eingangshalle "in Auftrag". Entgegen dem Wortlaut "Auftrag" handelte es sich rechtlich um einen Werkvertrag, genau genommen um einen "Totalunternehmervertrag". Der Preis war abhängig von frei verfügbaren Fläche nach Festlegung der Innenraumgestaltung. Nachdem der Künstler eine deutlich grössere Fläche zur Verfügung hatte als ursprünglich geplant und das Werk somit um einiges teurer geworden wäre, trat der Kunstsammler vom Vertrag zurück. In den Abmachungen fehlte eine Klausel zum vorzeitigen Vertragsrücktritt. Es war vorallem unklar, ob auf die Planungsleistungen des Künstler Art. 404 OR oder Art. 377 OR aus dem Werkvertrag zur Anwendung kam. Das Gericht entschloss sich zu einer richterlichen Vertragsergänzung in dem Sinne, dass der Bauherr und Sammler die geleisteten Planungsarbeiten zu entschädigen hatte, nicht aber Ersatz für entgangenen Gewinn leisten musste (vergl. dazu auch BGE 111 II 260ff. und 107 II 179ff.).

 

Auslegeung von Statuten und Stiftungsurkunden
Bei der Auslegung von Statutenbestimmungen kommt dem subjektiven Willen der Beteiligten in der Regel keine vorrangige Bedeutung zu. Auch bei Stiftungen kommt gelegentlich die Bezeichnung "Statuten" vor. Gemeint sind damit die Bestimmungen in der Stiftungsurkunde oder des Stiftungsreglements. Weil Stiftungen aber — anders als Kapital- und Personengesellschaften — stark vom subjektiven Willen des Stifter geprägt sind, kommt dem wirklichen Willen des Stifters (wie bei Testamenten) eine vorrangige Bedeutung zu. In der Praxis spielt die Prioritätenordnung in der Auslegungsfrage eine entscheidende Rolle.

Das Beispiel aus der Praxis
In einem "Vertrag" hatte ein Sammler-Ehepaar einem Kunsthaus eine grosse Sammlung bedeutender Gemälde und Plastiken geschenkt. Das beschenkte Kunsthaus hatte die Versicherung zu übernehmen, und die geschenkten Kunstwerke sollten "grundsätzlich" in zusammengehörigen Werkgruppen als geschlossene thematische Kollektion ausgestellt werden. Die Schenkung war "in dem Sinne auflösend bedingt, als sie hinsichtlich einzelner Objekte nachträglich dahinfällt, wenn sie sich vor dem 31. Juli 2002 ihrer künstlerischen Qualität nach des Kunsthauses nicht würdig erweist". Diese mangelnde künstlerische Qualität war laut Vertrag "dann anzunehmen, wenn geschenkte Kunstwerke nicht ebenso oft im Kunsthaus oder andern Ausstellungsräumen gezeigt werden wie die andern Werkgruppen der ständigen Sammlung". Nachweisbar waren einzelne Werkgruppen der geschenkten Sammlung innerhalb der 20-jährigen Bewährungsfrist nicht permanent ausgestellt worden. Die Erben verlangten deshalb ganze Teile der Sammlung zurück.

Musste nun primär auf den subjektiven Willen des Schenkers allein abgestellt werden? Nein, denn in einem zweiseitigen Vertrag, welcher auch Leistungspflichten des Beschenkten umfasste, konnte nur der übereinstimmende wirkliche, subjektive Wille beider Parteien massgebend sein. Weil ein solcher nach 20 Jahren — alle damals Beteiligten waren zwischenzeitlich verstorben — nicht mehr nachweisbar war, musste der Vertrag nach objektiven Kriterien (objektivierend) ausgelegt werden. Zu fragen ist, wie dürfen und müssen die Willenserklärungen nach ihrem Wortlaut oder Zusammenhang sowie den gesamten Umständen verstanden werden von Parteien, welche nach Treu und Glauben handeln:

Welcher Stellenwert kommt dem Wort "grundsätzlich" zu, wenn die Parteien vereinbarten, die Sammlung sei "grundsätzlich in zusammengehörigen Werkgruppen als geschlossene thematische Kollektion" auszustellen?

Wenn auch keine "anderen Werkgruppen" als Vergleichsmöglichkeit zur Verfügung stehen, weil das Kunsthaus keine andere Werkgruppen geschlossen permanent ausstellt, ist dann auf die nichtausgestellten Teile der andern Werkgruppen oder die ausgestellten Teile der andern Werkgruppen abzustellen?

Wenn das Kunsthaus wegen Raummangel auf eine permanente Ausstellung aller geschenkten Werkgruppen verzichten musste, über die geschenkte Sammlung aber einen gewichtigen Kunstband veröffentlicht hat, ist dies als Kompensation für teilweise Nicht-Erfüllung des Schenkungsvertrages zu werten?

Letztlich bewegen wir uns in einem solchen Fall auf der Ebene des case-law. Für den Prozessfall ist eine Prognose kaum mehr möglich. Gefragt ist geschickte Mediation aller beteiligten Anwälte.

 

von Dr. iur. Bruno Glaus


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